Große Erwartungen: Das Kunstjahr 2012

Vielleicht lag bei Ihnen ja ein Gutschein für eine „Documenta“-Eintrittskarte (20 Euro) unter dem Baum? Wäre jedenfalls ein schickes Geschenk für den dem Zeitgeist nicht völlig abgeneigten Kunstliebhaber gewesen. Denn die fünf Jahre Wartezeit sind rasant vergangen: Am 9. Juni eröffnet sie in Kassel schon wieder, die „Documenta“, der „riesige Künstlerkongress“, wie die aktuelle Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev die Großausstellung bezeichnet, an die wir traditionell zu große Erwartungen knüpfen. Schließlich soll sie uns doch nicht weniger anzeigen als die Richtung: Wohin geht es mit der Kunst und ihrem Display, der Ausstellung, in diesen seltsam fragilen Jahren zwischen Wohlstand und Krise.

Einen ideologischen Überbau will die Kuratorin, die sich als „Verkehrsregler“ bezeichnet, nicht formulieren: „Man darf die Arbeit der Künstler nicht einem Konzept unterordnen. Es gibt gewisse Fragen, die mich interessieren und an denen wir und die Künstler arbeiten“, erklärte sie dem Kunstmagazin „Art“. Welche Fragen sie damit meint, darüber kann man bei der Betrachtung des ersten Documenta-13-Kunstwerks sinnieren, das bereits in der Kasseler Karlsaue errichtet wurde: die „Ansichten eines Steins“, eines Granitbrocken, der wie ein Nest in einem neun Meter hohen Bronzebaumskelett ruht – die kleine, echte Stechpalme zu den Wurzeln der Plastik dabei bitte nicht zu übersehen, das Pflänzchen hat Arte-Povera-Künstler Giuseppe Penone mit Absicht beigefügt.

Warten und Schimpfen. Das gespannte Warten (welche Österreicher?) auf die Veröffentlichung der Künstlerliste kurz vor der „Documenta“-Eröffnung und das Schimpfen auf die vorprogrammierte Enttäuschung danach (zu wenig Österreicher) werden jedenfalls dieses Kunstjahr prägen. Sie werden die Stimmung machen, den Takt vorgeben, ähnlich der Metronome, die zurzeit auf der „Documenta“-Homepage schwingen, in einem Kurzfilm des südafrikanischen Starkünstlers William Kentridge.

Mit starken Ansagen weniger zurückhaltend ist der Leiter der „Berlin Biennale“, ebenfalls ein Pflichttermin kommendes Jahr: „Konfrontation ist das Gebot der Stunde“ ließ der polnische Künstlerkurator Artur Zmijewski wissen. Wir sind dafür vielleicht nicht gerüstet, aber bereit! (27.4.–1.7.)

Eine Grande Tour durch Deutschland wird sich 2012 nicht vermeiden lassen: Das beginnt mit der großen Retrospektive zum 80. Geburtstag des renommiertesten Malers der Jetztzeit, Gerhard Richter, in der Neuen Nationalgalerie Berlin. 150 Gemälde fügen sich zu einem monumentalen „Panorama“, vor dem wohl schamlos niedergekniet werden soll. (12.2.–13.5.)

El Greco in Düsseldorf. Das wird sich auch vor einigen Werken El Grecos im Düsseldorfer Kunstpalast nicht vermeiden lassen: 40 Werke des manieristischen Malergenies treffen hier auf rund 100 von ihm beeinflusste Arbeiten von Nachfolgern wie van Gogh, Kokoschka oder Picasso. (28.4. bis 12.8., www.smkp.de)

Bleibt noch ein Sprung zu den erotischen Blumen von Giorgia O’Keefe in der Münchner Hypo-Kunsthalle (3. 2. bis 13. 5.) und der unvermeidliche nach Frankfurt in die Schirn Kunsthalle, wo von 9.2. bis 13.5. eine weniger bekannte Seite von Edvard Munch für Besucherrekorde sorgen soll: sein Interesse für Fotografie, Film und Theater. Ab Sommer dann in der Tate Modern in London zu entdecken.

London: Lucian Freud, Damien Hirst. Wen es dieses Jahr an die Themse zieht, der sollte allerdings die Olympischen Sommerspiele (27. Juli bis 12. August) in seiner Planung nicht vergessen. Lieber schnell reisen – dann erwischt man vielleicht noch die große Leonardo-da-Vinci-Schau in der National Gallery. Und von 9.2. bis 27.5. sind in der National Portrait Gallery 100 Porträts des gerade verstorbenen Lucian Freud ausgestellt. Ein Künstler hat das Großaufgebot rund um die Olympiade allerdings wohl weniger als Grund zur Stadtflucht als vielmehr als Möglichkeit zu noch größerer Popularität erkannt: Damien Hirst – ihm wird in der Tate Modern eine große Retrospektive gewidmet, mit allem, was zu der umstrittenen Rampensau, pardon, gehört: eingelegte Haie und Kälber, Punkt- und Schmetterlingsbilder, Fliegen und Kadaver. (4. 4. bis 9. 9., www.tate.org.uk) Für all diejenigen, die nicht auf die für 2013 angekündigte Albertina-Ausstellung warten wollen.

Weiter über den großen See scheint man sich heuer aber, ehrlich gesagt, nicht unbedingt wagen zu müssen: Außer man ist ein sehr großer Fan von Cindy Sherman, der das Museum of Modern Art von 26.2. bis 11.6. eine Einzelausstellung widmet. Aber sonst?

Österreich: Kiefer und Brandl. Geben wir uns in Wien den Overkill, was auch ganz ohne Klimt-Jahr (siehe Artikel nebenan) funktioniert. Begonnen wird gleich mit zwei großen Ausstellungen zweier großer Malermeister: Anselm Kiefer im Essl Museum (3.2.–29.5.) und Herbert Brandl im Kunstforum Bank Austria. (26.1.– 15.4.)

Im Belvedere werden 2012 eher große Themen abgehandelt: die von Thomas Zaunschirm kuratierte Gewaltschau „Gold“, die mit einem Mumienporträt beginnt und bei Erwin Wurm und Gerwald Rockenschaub endet. Erstmals werden dafür die Räume vom Unteren Belvedere, der Orangerie und dem Prunkstall für eine Ausstellung zusammengespannt. (15.3.–17.6.) Die zweite große Themenschau betrifft dann die dunkle Seite, „Die Nacht im Zwielicht. Kunst der Romantik bis heute“ (24.10.–17.2. 2013).

Womit hält die Albertina dagegen? Hier wird im Herbst mit Kaiser Maximilian I. und der „Kunst der Dürerzeit“ aufgefahren (24.10.–17.2. 2013). Und auch im Frühjahr besinnt man sich schon auf die eigenen Sammlungsschätze, auf Handzeichnungen der alten Niederländer, auf „Bosch, Bruegel, Rubens, Rembrandt. Meisterwerke der Albertina“. (25. 5.–26.8.)

Eher auf Eskapismus als auf Besinnung setzt die Kunsthalle Wien mit ihrem Schwerpunkt „Gegenwelten“: Höhepunkt ist eine große Zirkusausstellung (4.5.–2.9.), im Herbst wird es dann mit einer Huldigung an die große Marina Abramović wieder existenzieller (12.10. bis 24.2.). Die Kunsthallen-Konkurrenz in Krems setzt auf einen Vorreiter der Postmoderne, auf das eigenartige Werk des Malers Francis Picabia, dem Hans-Peter Wipplinger vom 15. 7. bis 4. 11. die erste große Retrospektive in Österreich ausrichtet.

Nackte Männer und Kunstkammer. Das jährliche Pensum an nackten Frauen in der Kunst sollte mit dieser Schau erschöpft sein. Man kann sich also mit ruhigem Gewissen den nackten Herren zuwenden, die den Herbst dominieren werden: Das Leopold-Museum und das Lentos-Museum in Linz widmen sich nicht völlig zufällig gleichzeitig diesem recht viel versprechenden Thema. Wir sollten es einfach genießen…

Das Highlight des österreichischen Kunstjahres aber hat sich ans Jahresende gesetzt, bekommt das größte Bild und auch das letzte Wort: Nach zehnjähriger Schließung und unzähligen Spendenaktionen wird im Dezember endlich die Kunstkammer eröffnet. Man wagt es ja fast nicht zu schreiben.

(©“Die Presse“, Print-Ausgabe, 01.01.2012)